Ein Märchen aus Nordamerika, erzählt in der Gebärdensprache. ausgefuchst.ch, das bilinguale Onlinemagazin nicht nur für Gehörlose.
In den alten Zeiten lebte einmal ein Häuptling, der kannte nicht nur die Kunst des Kämpfens, sonder auch die Kraft der Heilkräuter und er konnte mit den Geistern reden. Am liebsten sprach er mit den Uwanami, den Wolkengeistern. Dieser Häuptling hatte vier Töchter. Drei waren fleissig, holten Wasser, mahlten Mais und flochten Körbe. Die jüngste aber träumte den ganzen Tag mit offenen Augen, schaute die Blumen an und sprang den Schmetterlingen hinterher. Die grossen Schwestern ärgerten sich, dass die jüngste ihnen nicht half. Sie sagten: „Hilf uns Wasser tragen!“ oder „Komm, trag die neuen Körbe nach Hause!“Aber als alles nichts half, da begannen sie zu schimpfen und sie schimpften von früh bis spät.
Das Schimpfen der Schwestern störte die Jüngste beim Träumen und schliesslich hielt sie die bösen Stimmen nicht mehr aus und rannte zum Dorf hinaus, nur damit sie ihre Schwestern nicht mehr hören musste.
Kaum aber hatte sie das Dorf hinter sich gelassen, als auf einmal grosse Wolken am Himmel aufzogen und schwere Regentropfen auf die Erde fielen. Wie eine graue Wand kam der Regen daher und mitten in diesem Brausen tauchte auf einmal ein junger Mann auf. Er hielt Pfleil und Bogen in seinen Händen und war ganz in grau gekleidet. Er trat aus dem Regen hervor und fragte das Mädchen: „Was tust du hier so allein?“ Das Mädchen erzählte von seinen Schwestern und der Regenjüngling sprach: „Komm zu mir ins Wolkenhaus, dort wird dich niemand finden.“ Das Mädchen kletterte auf seinen Rücken, schloss die Augen und wie ein Wirbelwind wurde es an den Rand des Weltenmeeres getragen. Mitten drin stand ein Berg, dessen Gipfel in den Wolken verschwand. Dorthin führte der junge Mann das Mädchen und sprach: „Du bist nun im Land der Uwanami, der Wolkengeister. Die Frauen sind deine Mütter und Väter, die Kinder deine Schwestern und Brüder.“ Sie wurde von den Wolkengeistern willkommen geheissen, erhielt ein weisses Gewand und lernte alle Zauberformeln, die die Uwanami kennen, um das Wetter zu machen. Sie musste aber auch bei der Arbeit mithelfen, denn es gab hier genauso viel zu tun, wie unten auf der Erde.
Auf der Erde machten sich der Vater und die Schwestern grosse Sorgen. „Hätten wir doch nicht so sehr geschimpft mit ihr!“ sagten die Schwestern und der Vater schickte Späher aus, um das Mädchen zu suchen, doch sie fanden sie nicht. Da rief der Vater den Habicht und bat ihn nach dem Märchen zu suchen und als dieser zurückkehrte sprach er: „Ich finde keine Spur deiner Tochter auf der Erde. Zauberwesen müssen sie entführt haben.“ Da sandte der Vater die Raben aus und diese flogen bis zum Rand des Weltenmeeres. Als das Mädchen sie sah, erkannte es die Raben als Boten von der Erde und es bekam grosse Sehnsucht nach seinen Schwestern und dem Vater. Doch die Raben konnten das Mädchen nicht nach Hause bringen, denn die grossen Wolken verbargen den Weg zur Erde.
Da rief der Vater die Schmetterlinge und sprach: „Ihr seid die Lieblinge der Sonne, ihr werdet meiner Tochter helfen können.“ Mit ihren zarten Flügeln flogen die Schmetterlinge in das Land der Wolkengeister und die Sonne vertrieb die dichten Wolken und zeigte ihnen den Weg zum Mädchen. Es freute sich sehr und bat die Schmetterlinge, es wieder nach Hause zur bringen. Da kam der Regenjüngling auf das Mädchen zu und sprach: „Wenn du wirklich in deine Welt zurück möchtest, muss ich dir das Wissen um die Zaubersprüche nehmen, denn es kann nicht sein, dass ein Mensch auf der Erde die Geheimnisse der Wolkengeister kennt.“
„Nimm das Wissen fort“, sagte das Mädchen, „denn ich weiss jetzt, dass ich zu den Meinen gehöre.“ Der junge Mann strich mit seiner Hand sanft über die Augen des Mädchens. Danach breiteten die Schmetterlinge ihre Flügel aus und auf einem Teppich aus tausenden von Flügeln wurde das Mädchen zurück auf die Erde getragen. Der Vater und die Schwestern kamen, umarmten es und freuten sich! Von nun an half auch die Jüngste den Schwestern beim Arbeiten. Sie holte Wasser und sie flocht wunderschöne Körbe und verzierte sie mit bunten Mustern, bunt wie Schmetterlingsflügel.
Märchen der Zuni, Nordamerika Aus: Märchenkalender, Mutabor Verlag 2016