Der Begriff Bilingualität wird immer mehr und überall verwendet. Aber nicht immer ist es klar, was damit gemeint ist.
Am vom Innterschweizer Gehörlosen- und Sportverein Luzern organisierten KoFo wird Bilingualität im Allgemeinen in im Zusammenhang mit der Gebärdensprache erklärt. Um aber die Bilingualität wirklich zu verstehen, ist es zentral, auch über den Spracherwerb informiert zu sein.
Bilingualität – Chance für die Gehörlosengemeinschaft
Loredana Gsponer heisst die KoFo-Besucherinnen am 28. November 2014 im Konferenzraum des Hotel Garni in Gisikon ganz herzlich willkommen.
Gsponer eröffnet das KoFo mit dem Hinweis, dass Marina Ribeaud, dipl. Gebärdensprachlehrerin, Buchautorin und Leiterin des Verlags fingershop.ch, als sie als Referentin für die heute Veranstaltung angefragt worden sei, spontan zugesagt habe. Über diese Zusage habe sich das ganz KoFo-Team sehr gefreut.
Gsponer: «Um die Bilingualität wirklich zu verstehen, ist es auch wichtig, über den Spracherwerb informiert zu sein. Deshalb wird Marina Ribeaud in ihrem Vortrag auch auf den Spracherwerb und die Unterschiede zwischen der Erstsprache (L1) und der Zweitsprache (L2) aufzeigen.»
Gsponer erklärt, dass mit dem heutigen Thema das KoFo-Team den Puls fühle und spüren wolle, wie es um das Wissen von Bilingualität stehe. Aber es soll auch aufgezeigt werden, wie sich die Situation Zuhause und in der Schule heute gegenüber früher präsentiere.
Gsponer: «Ich freue mich auf die spannende Diskussion und hoffe, dass wir Antworten auf die Fragen «Welche Chance hat die Bilingualität?» und «Was müssen wir als Eltern, Fachleute und Interessierte heute wissen?» erhalten.»
Geringe Lesekompetenzen bei gehörlosen Schulabgängern
Marina Ribeaud beginnt ihr Referat mit dem Hinweis, dass Bilingualität in Zusammenhang mit der Gebärdensprache ein relativ neues Thema sei und es noch nicht viele Möglichkeiten gebe, um Bilingualität umfassend kennen zu lernen und zu verstehen.
Ribeaud macht einen Blick zurück in die Vergangenheit. Im Jahr 1997 sei in Deutschland im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung die Lesekompetenz von 60‘000 gehörlosen Schulabgängern erfasst worden. Das Resultat sei ernüchternd gewesen. Sage und schreibe 55% der Schulabgänger gelten als Nicht-Leser. Bei Hörenden wird von 15 – 17% funktioneller Analphabeten ausgegangen.
Ribeaud erwähnt, dass lediglich 300 Schülerinnen und Schüler über umfassende Sprachkompetenzen verfügten und gerade 4% erreichten ein altersangemessenes Leseniveau.
Wie kommt man zu einer Sprache
Ribeaud erklärt, dass der primäre Spracherwerb bei hörenden Kindern im Alter ab der Geburt bis ca. 4. Lebensjahr sowohl über das Gehör wie auch visuell über die Augen erfolge.
Die Kinder nehmen in diesem Lebensabschnitt unbewusst und ungesteuert Gehörtes und Gesehenes implizit auf.
Ribeaud: «Die Babys nehmen alles auf und im Hirn wird vorerst alles gespeichert, dann geordnet und anschliessend werden die wichtigen Verbindungen hergestellt.»
Ribeaud informiert, dass die Kinder mit Beginn der Frühförderung oder im Kindergartenalter als sekundärer Schritt bewusst und gesteuert die Sprache explizit erlernten. In dieser Zeit werde beim Lernen auf bestehendes Wissen zurückgegriffen und mit der Spracherinnerung und dem Erlernen der Schriftsprache begonnen.
Ribeaud nimmt darauf Bezug, wie der primäre Spracherwerb von gehörlosen und schwerhörigen Kindern innerhalb der Familie bei hörenden Eltern erfolge. Auffallend sei, dass es bei dieser Gruppe von Kindern keine auditive sowie visuelle und motorische Förderung gebe. Seien die Eltern gehörlos und ihre Kinder ebenfalls gehörlos, würden die Kinder eine visuelle und motorische Förderung erfahren, aber keine auditive. Hörende Kinder mit gehörlosen Eltern
würden sowohl auditiv wie auch visuell und motorisch gefördert.
Ribeaud: «Der primäre Spracherwerb bei hörenden Kindern erfolgt auditiv, während er bei gehörlosen Kinder visuell erfolgt. Die visuelle Förderung ist aber massiv eingeschränkt. Im Kindergarten wird die Gebärdensprache, da dies der Lehrplan nicht vorsieht, nicht vermittelt. Deshalb ist klar, dass gehörlose und Ribeaud erklärt, dass beispielsweise bei einer italienischen Familie die Eltern mit ihren Kindern zuhause ganz normal in der Muttersprache, nämlich Italienisch, kommunizierten. Die Eltern könnten, damit ihre Kinder die Primärsprache optimal erlernten, die Kinder in spezielle Förderkurse schicken. In Gebärdensprache bzw. für gehörlose Kinder gebe es keine vergleichbaren Kurse, um die Gebärdensprache als vollständige Sprache von Anbeginn erlernen zu können.
Ribeaud: «Wenn die Kinder die Sprache falsch lernen, müssen sie später nicht nur die Sprache lernen, sondern auch noch Fehler korrigieren. Oftmals liegt das Problem darin, dass die Eltern keinen sekundären Spracherwerb in ihrer Muttersprache hatten. Deshalb empfehle ich,dass gehörlose Eltern mit ihren Kindern, egal ob hörend oder gehörlos, immer in Gebärdensprache kommunizieren sollen.»
Assimilation heute
Ribeaud beschreibt, dass früher in den Gehörlosenschulen viele Kinder gemeinsam unterrichtet worden seien. In den Pausen haben die gehörlosen und schwerhörigen Kinder gebärdet und so von einander die Gebärdensprache erlernt. Die Realität war oftmals so, dass sich Schüler ohne vorhandene Primärsprachkompetenzen keine oder nur ungenügende Lesekompetenzen aneigneten bzw. ihnen diese hätten vermittelt werden können.
Heute sei die Situation so, dass gehörlose und schwerhörige Kinder infolge des integrativen Unterrichts keine Klassenkameraden mehr hätten, mit welchen sie in der Pause gebärden und somit voneinander die Gebärdensprache erlernen könnten. So hätten die Kinder weder eine eigene Sprache, noch einen richtigen Zugang zum Unterrichtsstoff. Vielmehr hätten sie Stress sowie Sozial- und Kommunikationsprobleme. Die Probleme bestünden wie eh und seien ungelöst.
Symbolsystem
Ribeaud erklärt, dass das Symbolsystem eine der wichtigsten Grundlage für das Verstehen einer Sprache sei. Auf diesem System bauten die wissenschaftlichen Lehrbücher bzw. die Praxis der deutschen Psychologin und Professorin für Entwicklungspsychologie Gisela Szagun auf.
Ribeaud: «Dieses System muss unbedingt früh zur Anwendung gelangen und kontinuierlich gefördert werden. Dann können tatsächlich nachhaltige Lernerfolge erzielt werden.»
Bilingualer Unterricht
Ribeaud: «Idealerweise verfügen gehörlose und schwerhörige Kinder schon vor dem Kindergartenalter über gute Gebärdensprach-Kenntnisse, und sie können in der Gebärdensprache kommunizieren. Ab dem Kindergarten und im Idealfall ab dem Spielgruppenalter wird sowohl in Gebärdensprache wie in der Lautsprache unterrichtet. Nur so können die gehörlosen und schwerhörigen Kinder ihre Sprache, also die Gebärdensprache, zeitgemäss noch vollständig weiterentwickeln.»
Bilinguale Spielregeln
- Das Kind erwirbt beide Sprachen und für beide Sprachen werden Sprachunterrichte angeboten.
- Der Unterricht wird so gestaltet, dass beide Sprachen im Unterricht vorkommen
- Das Kind hat die Möglichkeit, die Sprachen im Schulalltag zu integrieren
- Das Kind muss die Möglichkeit haben, die beiden Sprachen zu verknüpfen
Ribeaud gibt zu bedenken, dass es umso besser sei, wenn so früh wie möglich mit «bilingual » angefangen werde, denn nicht jedes Kind sei sprachbegabt. Die deutsche Sprache sei eine akustische Sprache und mündliche Nuancen könnten nicht gesehen werden. Umso wichtiger sei folglich die Förderung der Gebärdensprache um auch dadurch das Potenzial von Sprachen erleben zu können. Und schliesslich sei die Schriftlichkeit wesentlich wichtiger als das Mündliche.
Ribeaud erklärt, wie sie sich einen modernen bilingualen Unterricht vorstellt und wünscht:
- Gebärdensprache
Vollwertiger Unterricht; Grammatik, Wortschatz, Glossierung, Erzählen und Zusammenfassen mit Bewertungen - Deutsch
Vollwertiger Unterricht; Grammatik, Wortschatz, Erzählen und Zusammenfassen mit Bewertungen - Aussprache / Lippenlesen
Ist von der Inhaltvermittlung abgekoppelt - Deutsch <-> Gebärdensprache
Verknüpfungen, Übersetzungen, Worterklärungen, etc. je nach individuellem Bedarf - Andere Fächer
Sowohl als auch teilweise in Deutsch und in Gebärdensprache
Die Ziele, die mit dem bilingualem Unterricht
erreicht werden sollen:
- Förderung der Wissensbildung
- Förderung beider Sprachbeherrschungen, d.h. Deutsch und Gebärdensprache
- Beherrschung Schriftsprache
- Beide Sprache vermitteln können
- Erreichen von höheren Schulabschlüssen, z.B.: Matura, Bachelor, Master etc.
- Bestmögliche Chance für Erreichen beruflicher Ziele und hoher Lebensqualität
Marina Ribeaud schliesst ihr spannendes Referat mit einem Appell zugunsten von Bilingualität. Mit Bilingualität werden die Kommunikations- und Sprachkompetenzen aber auch die Sozialkompetenzen gefördert und gesteigert. All dies eröffne Vielfältigkeit im Leben. Bilingualität ermögliche zudem die Teilnahme in der Gehörlosen- wie auch in der hörenden Gemeinschaft. Somit sei klar, Bilingualität steigere die Lebensqualität der von Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit betroffenen Menschen.
Im Anschluss an das Referat von Ribeaud wird in der Gesprächsrunde noch lange und ausgiebig über Bilingualität, aber auch über eigenen Erfahrungen aus Familie, Schulzeit und Berufswelt diskutiert.
Als Fazit des KoFo kann vor allem auf Grund der zahlreichen Wortmeldungen festgehalten werden: Bilingualität könnte tatsächlich die Schul- bzw. Lern-Situation gehörloser und schwerhöriger Kinder massgeblich verbessern und somit mit Sicherheit auch zu einer wünschenswerten höheren Lebensqualität entscheidend beitragen.
[rr]
Text erschienen in Sonos Schweizerischen Hörbehindertenverband